Vorbild ManU: Blindenprojekt am Millerntor
Hamburg -
"Los, mach ihn rein", schreit Alexandra. Es ist die 27. Minute, und ein St. Paulianer hat sich den Ball zum Freistoß zurecht gelegt. "Meine Güte, das gibts doch gar nicht", brüllt sie Sekunden später, als der Ball etwas kläglich in der Mauer landet. Doch auch wenn das gesamte Stadion ihr zustimmt - Alexandra Thode hat den Freistoß etwas anders gesehen. Sie hat ihn gehört. Die 28-jährige Verwaltungsangestellte ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert.
Dass sie trotzdem regelmäßig ans Millerntor kommt, ist vor allem dem Blindenprojekt des FC St. Pauli zu verdanken. "Der Gedanke, der dahinter steckt, ist dass hier Fans für Fans kommentieren - und zwar mitten im Fanblock", erzählt Wolf Schmidt. Er ist so etwas wie der verlängerte Blindenstock auf dem Fußballfeld: Seit Beginn des Projekts im März 2004 übersetzt der 38-Jährige das Geschehen auf dem Rasen, schickt es durch das Mikrofon direkt an die Kopfhörer der sehbehinderten Fans. "Mann Leute, das ist ein Grottenkick hier, das ist das Grauen", muss er ihnen dieses Mal entnervt mitteilen.
Doch die finden es klasse. Und sehen durch Wolf sogar mehr vom Spiel als der Rest des Stadions: "Eine unglaubliche Szene, Leute! Daniel Sager will den Ball weghauen, rutscht aus, und mit der Brust schon auf dem Rasen liegend, köpft er den Ball noch weg. Daniel Sager hat uns die Robbe gemacht!" Selbst Patrick (34), der Fußball sonst lieber im Fernsehen sieht, ist begeistert.
St. Pauli ist zwar nicht der erste Club, der so einen Service für sehbehinderte Fans anbietet - in der Regionalliga ist er aber der einzige. Die Idee stammt aus England: Ende 1999 konnten blinde Fans von Manchester United erstmals den Kommentar des Spiels über Kopfhörer verfolgen. Als die beiden ManU-Fans Katja (26) und Michael (28) Löffler das vor drei Jahren in Old Trafford erlebten, war es für das fußballverrückte Ehepaar ein einmaliges Erlebnis. Beide sind seit ihrer Geburt blind - und wollten diese Idee unbedingt ans Millerntor holen.
Ausgerechnet im Zug zum Champions-League-Spiel vom VfB Stuttgart gegen Manchester United trafen die beiden dann auf Corny Littmann, erzählten dem Präsidenten von ihrer Idee. Alles weitere ergab sich - und heute sind Wolf Schmidt und die Löfflers stolz darauf, dass der FC St. Pauli das alles ohne fremde Hilfe auf die Beine gestellt hat. "Okay, die Kopfhörer sind gesponsert", sagt Schmidt. Trotzdem: Die Kommentierung macht er ehrenamtlich.
Seit gut zwei Monaten leiden die Löfflers & Co. nun mit, wenn Schmidt ins Mikrofon schimpft, jammert oder jubelt - je nachdem, was die Jungs auf dem Rasen bringen. Natürlich sind sie auch vorher schon ins Stadion gegangen. Denn um die Faszination Fußball zu fühlen, braucht man keine gesunden Augen. "Aber manchmal ist es besser, ein paar Sachen erklärt zu bekommen. Die Aktionen im einzelnen, die Aufstellung oder die Taktik", sagt Patrick.
Nach dem Spiel treffen sich alle noch am Bier-Stand vor dem Club-Container. Und der Flachs blüht. "Na sowas", lacht Alex plötzlich los. "So viele Blindfische wie heute haben die hier am Astra-Strand aber auch noch nicht gesehen . . . "
Karten für das Blindenprojekt online unter sven.brux@fcstpauli.de oder unter Telefon: 0 40/31 78 74 24.
Iris Hellmuth
erschienen am 17. Mai 2004
in Sport