Ein Jahr nach der WM – Teil 2: das Sportliche
Die WM 2006 ist jetzt ziemlich genau ein Jahr vorbei. Also die Zeit, um einmal mit genügend Abstand zum Ereignis eine kleine Bilanz zu ziehen. Das Sommermärchen ist Geschichte, trotzdem dürfte einiges nachhaltig bei dem gemeinen Bundesbürger haften geblieben sein – und sei es nur die Erinnerung an vier nette Wochen mit tollem Wetter und internationalen Gästen.
Im zweiten Teil möchte ich mit dem eigentlich wichtigen einer WM auseinander setzen. Den Darbietungen auf dem Rasen:
Als drei Monate vor der WM die deutsche Nationalmannschaft in Italien mit 4:1 verlor sackte die Begeisterung für das Turnier bei den Fans in ungeahnte Tiefen. Man diskutierte ernsthaft, ob man das die Veranstaltung nicht verschieben oder ob die deutsche Mannschaft freiwillig zurück ziehen sollte. Ein ganz unrühmliches Kapitel war einmal mehr die Zeitung mit den vier großen Buchstaben, die unverblümt ein Vierteljahr vor der WM den Rücktritt von Jürgen Klinsmann forderte.
Dabei war auch das Spiel in Italien ein Teil eines Puzzles, das erst zur WM vollendet werden sollte. Klinsmann übernahm eineinhalb Jahre zuvor eine Mannschaft, die hoffnungslos überaltert und ohne jeglichen Einsatz ihr Pensum abspulte. Der peinliche Auftritt der Auswahl bei der EM 2004 gegen das B-Team von Tschechien war nur die Krönung einer Entwicklung, die spätestens nach dem Gewinn der Europameisterschaft 1996 in England einsetzte. Die Vizeweltmeisterschaft 2002 war ein Betriebsunfall, der sich aus einem guten Zusammenhalt innerhalb des Teams und extrem schwachen Gegnern bis zum Finale ergab,
Klinsmann fing also bei Null an. Sukzessive baute er eine neue Mannschaft zusammen. Fast in jedem Spiel nach 2004 brachte er einen neuen Debütanten. Dabei hatte er natürlich auch Glück, dass die Nachwuchsarbeit in den Klubs langsam Früchte trug. Trotzdem sind die meisten Talente, die später bei der WM zum Einsatz kamen eher ein Produkt des Zufalls als kontinuierlicher Nachwuchsarbeit der Profiklubs. Ein Abwehr-Jahrhunderttalent wie Per Mertesacker setzt sich auch ohne Förderung durch und die unfreiwillige Umschulung eines Philipp Lahms auf die Position die linke Abwehrseite entsprang dem Mangel von guten Linksverteidigern in Deutschland.
Jedoch setzte der Teamchef auf wichtigen Positionen auf erfahrene Kräfte. Im Mittelfeld plante er mit einer Doppel-Sechs bestehend aus Torsten Frings und Michael Ballack. Auf rechts sollte Bernd Schneider für Offensiv-Impulse sorgen und links hatte Youngster Bastian Schweinsteiger freie Hand. Im Sturm sollte der erfahrene Miroslav Klose seinen jungen Sturmpartner Lukas Podolski zu höheren Weihen führen.
Was sich schon beim Confed-Cup ein Jahr zuvor andeutete, wurde beim Eröffnungsspiel gegen Costa Rica mehr als deutlich. Auch wenn die Mannschaft im Spiel nach vorne zu gefallen wusste, war der Abwehrverbund zu Beginn des Turniers noch nicht weltmeisterschaftsreif. Die Costa Ricaner stürzten bei ihren seltenen Vorstößen beim Eröffnungsspiel die Defensive von einer Verlegenheit in die nächste. Am Ende stand es 4:2 für den Gastgeber. Allerdings konnten die schönen Tore von Lahm und Frings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch mächtig im Spiel knirschte.
Klinsmann erstickte die öffentliche Kritik gegen Manuel Friedrich, der in der gesamten Partie eine unglückliche Figur machte im Keim, denn er wusste, er hat keine Alternativen auf der rechten Abwehrseite.
Wie die Weltmeisterschaft aus deutscher Sicht verlaufen wäre, wenn es nicht das sagenumwobene 1:0 in der Schlussminute gegen Polen gegeben hätte, bleibt pure Spekulation. Diejenigen, die den Adler auf der Brust tragen, rannten 90 Minuten gegen eine sehr defensive eingestellte polnische Mannschaft an. Für die Polen war es die letzte Chance, denn sie hatten etwas überraschende zuvor gegen Ecuador verloren. Gefühlte einhundert mal stand ein deutscher Spieler frei vor dem gegnerischen Gehäuse – allerdings versagten Podolski, Klose und Co. jedes Mal die Nerven. So waren es zwei Einwechselspieler, die zu den Matchwinnern wurde. Ganz Deutschland zweifelte Klinsmanns Verstand an, als er vor der WM David Odonkor nominierte und dafür Kevin Kuranyi oder Andreas Hinkel zu Hause ließ. In dieser Schlussminute war es eben jener Odonkor, der vor heimischer Kulisse in Dortmund sich auf der rechten Seite durch tankte und den Ball scharf nach innen gab. Aus der Mitte stürmte der zweite Einwechselspieler Oliver Neuville heran und vollendet mit einer Helmut-Haller-Gedächtnisgrätsche zum 1:0.
Der anschließende Jubel in vermutlich nie da gewesener Form war ein Wendepunkt dieser WM aus deutscher Sicht. Nach diesem Tor klappten bei den Klinsmännern Dinge, von denen zuvor nur geträumt werden konnte und die Mannschaft strotzte mit einem Mal vor Selbstvertrauen.
Hie mache ich mal einen kleinen Schnitt, denn eine WM besteht nicht nur aus der deutschen Mannschaft und das abschließende Gruppenspiel gegen die ebenfalls qualifizierte Ecuadorianer war nur noch Formsache,
Hoch gewettet war die brasilianische Mannschaft. Wer sollte Ronaldinho, Ronaldo, Kaka und Co. stoppen? Die Wettquoten waren trotz der Tatsache, dass nur einmal eine nichteuropäische Mannschaft auf dem europäische Kontinent den WM-Titel erringen konnte, nicht eines Einsatzes wert. Doch der Auftritt schon vor der WM sorgte bei Fans und Experten für Verwunderung. Völlig abgeschottet präsentierte sich die Selecao in Deutschland und die Kritiker, die glaubten, dass die Mannschaft mit Emerson, Cafu, Roberto Carlos in die Jahre gekommen war und sie möglicherweise nicht den nötigen Biss für ein Turnier entwickeln könnte, sollten recht behalten.
In den Gruppenspielen gegen Kroatien, Australien und Japan stolperte das Team von Carlos Alberto Parreira von einer Verlegenheit in die nächste. dabei wirkte es so, als wolle der Trainer seinen alternden Stars noch einen würdigen Auf- und Abtritt gewähren. So setzte er auf den übergewichtigen Ronaldo im Sturm während der fitte Robinho auf der Bank Platz nehmen musste. Aber auch der zuvor hochgelobte Ronaldinho erlebte ein Turnier, das er wohl am liebsten wieder vergessen möchte. Zuvor hatte der mehrmalige Weltfußballer des Jahres bei Barcelona eine überragende Saison gespielt. In Deutschland wirkte der Star ausgebrannt und müde. Trotz der wenig berauschenden Auftritte in der schwachen Gruppe qualifizierte sich die Selecao für das Achtelfinale. Auch hier hatten de Brasilianer Glück, denn Ghana konnte den wankenden Riesen noch nicht fällen. Erst im Viertelfinale wurde dem unwürdigen Schauspiel der Brasilianer ein Ende gesetzt. Disziplinierte Franzosen deckten die Schwächen der Auswahl schonungslos auf und setzten sich ohne zu glänzen locker gegen den da noch amtierenden Weltmeister durch.
Überhaupt die Franzosen. Auch sie erwischten einen mäßigen Start in den Gruppenspielen. Nach Unentschieden gegen die Schweiz und Südkorea musste im letzten Gruppenspiel gegen Togo ein Sieg her. Ohne ihren Kopf Zinedine Zidan, der gesperrt pausieren musste, quälte sich die Equipe Tricolores zu einem 2:0 gegen die Schwarzafrikaner. Doch trotz der nicht gerade inspiriert wirkenden Darbietungen der Franzosen wurde schon hier etwas deutlich: Das Team von Raymond Domenech war unheimlich schwer zu besiegen und spielte taktisch auf allerhöchstem Niveau.
Ewige Favoriten und ewige Enttäuschungen – zu dieser Kategorie gehören zweifellos die Engländer und Spanier. Wie bei jedem Turnier gehörten die Spanier und Engländer zum Favoritenkreis. Während bei den Iberern dieses auf ihr Können beruht, ist es bei den Briten wieder Mal die Boulevardpresse, die ernsthaft glaubte, dass die Engländer nach 40 Jahren voller Enttäuschungen ausgerechnet in Deutschland wieder ernsthaft um den Titel mitspielen könnte.
Schon in der Gruppenphase bei den wenig überzeugenden Spielen gegen Trindidad und Tobago, Paraguay und die biederen Schweden wurde deutlich, dass dieses Unterfangen eine „Mission impossible“ werden würde. Es sollte aber zur englischen WM-Tragödie gehören, dass das Ausscheiden mal wieder im besten Turnierspiel erfolgen sollte. Im Viertelfinale war die Mannschaft von Sven-Göran Eriksson gegen den späteren WM-Vierten Portugal das bessere Team – ja bis, bis Wayne Rooney die Sicherung durchbrannte. Danach erkämpften sich die „Löwen“ das Elfmeterschießen, doch obwohl Beckham und Co. den Schuss vom Punkt trainiert hatten, endete diese Übung in dem üblichen Fiasko und der Reise zurück auf die Insel.
Der Auftritt der Spanier war ganz anderer Natur. In der Gruppe wurde die Ukraine mit 4:0 zerfetzt, Tunesien deutlich bezwungen und gegen Saudi Arabien sprang ein wenig glanzvoller Sieg mit einer B-Elf heraus. Im Achtelfinale war auch dieses Mal wieder Schluss, denn die Franzosen spielten taktisch diszipliniert und Patrick Viera erwischte einen dieser Tage, an denen alles gelingt. Erst entnervte er im defensiven Mittelfeld Fabregas und Co. und dann schoss er auch noch das 2:1 und bereitete den letzten Treffer der „Bleues“ vor. Resigniert ob des erneuten Ausscheidens titelte die Tageszeitung El Pais: „Spanien wie immer“.
Spielerisch geglänzt aber im geeigneten Augenblick keine „Cojones“ gehabt – so könnte man das Abschneiden der Argentinier bei der WM umschreiben. Nach dem zweiten Gruppenspiel glaubten nicht wenige, den kommenden Weltmeister gesehen zu haben. Die „Gauchos“ zerlegten die in der Qualifikation für ihre gute Defensive bekannten Serben und Montenegriner mit 6:0. Zuvor besiegte die Mannschaft von Jose Pekerman die hoch eingestuften Ivorer mit 2:1. Doch im Achtelfinale zeigte sich, dass das Team ein Problem mit seinen Nerven hat und ihr Trainer nicht zu den mutigsten Übungsleitern gehört. Mit einem mühevollen 2:1 nach Verlängerung gegen Mexiko erreichte man das Viertelfinale gegen Deutschland.
In diesem Spiel dominierten die Argentinier zunächst nach Belieben. ohne allerdings Gefahr vor dem Gehäuse von Jens Lehmann zu entwickeln. So fiel kurz nach der Pause die Führung etwas überraschend nach einem Standard. Die „Klinsmänner“ wirkten zunächst geschockt aber dann machte Pekerman zwei entscheidende Fehler. Er wechselte mit Riquelme und Hernan Crespo zwei wichtige Offensivspieler aus. In der Folge fasste das deutsche Team neuen Mut während die Argentinier sich zurück zogen. Der Ausgleich durch Klose, der in diesem Spiel erstmals gegen einen großen Gegner bei einem Turnier traf, war die logische Konsequenz dieser Maßnahmen. Was danach folgte ist WM-Geschichte. Die Verlängerung endete torlos und es folgte das Elfmeterschießen mit dem wohl berühmtesten Zettel der jüngeren deutschen Vergangenheit. Dabei hätte auf dem Papier auch „Bitte morgen ein Pfund Butter, ein Liter Milch, Erdbeeren und Klopapier mitbringen“ stehen können. Der Trick hat funktioniert: Argentinien musste nach Hause fahren.
Ebenfalls nach Hause fahren mussten alle afrikanischen Teilnehmer – und das frühzeitig! Überraschend hatten sich Kamerun und Nigeria nicht qualifiziert und die wohl beste Mannschaft unseres südlichen Kontinents von der Elfenbeinküste erwischte die so genannte Todesgruppe mit Argentinien und Holland. Didier Drogba und Co. zeigten in einem atemberaubenden Spiel gegen Argentinien technisch hochstehenden Fußball – aber leider waren es erneut taktische Unzulänglichkeiten, die den verdienten Lohn der Bemühungen verhinderten. Dabei wäre durchaus mehr drin gewesen, denn die Niederländer entpuppten sich nicht als das eingespielte Ensemble und gehörten zu den großen Enttäuschungen des Turniers.
Togo sorgte eher für unfreiwillig komische als sportliche Schlagzeilen. Otto Pfister warf zwischendurch angesichts unzumutbarer Umstände im Quartier das Handtuch, die Mannschaft streikte, der Verband verhandelte nebenbei mit Winnie Schäfer als Ersatzcoach, Pfister wurde wieder Trainer und die Spieler warten vermutlich bis heute auf die zugesagten WM-Prämien.
Neben Ghana spielte auch Angola am oberen Limit seiner Möglichkeit und trotzte sowohl dem Iran als auch Mexiko einen Punkt ab. Mehr war für den Debütanten aus dem bis vor kurzem durch Bürgerkriege zerrütteten Land nicht drin. Doch leider geht die WM in Deutschland wohl als Turnier der Stagnation in die Analen des afrikanischen Fußballs ein.
Noch schlimmer als den afrikanischen Fußball erwischte es die Vertreter Asiens: Saudi Arabien war der erwartete Punktelieferant und zeigte in den Spielen maximal Regionalligaformat. Die Auftritte Japans und Südkoreas abseits der Heimat waren ebenfalls mehr als dürftig. Japan wurde sang- und klanglos letzter der Gruppe, die Südkoreaner haben wenigstens noch einen Achtungserfolg gegen den späteren Finalisten Frankreich vorzuweisen, dem die Asiaten ein Unentschieden abtrotzten. Aber vier Jahre nach dem Halbfinaleinzug bei der eigenen WM war das eindeutig zu wenig und die Machtverhältnisse im internationalen Fußball wurden wieder gerade gerückt – zum Leidwesen der Asiaten.
Ein positive Überraschung war der Auftritt der Australier, die sich erst zum zweiten Male für einen WM-Endrunde qualifiziert hatten. Hinter Brasilien aber vor Japan und Kroatien erreichten die „Socceroos“ das Achtelfinale und hier unterlag man erst durch einen Elfmeter in der Schlussminute gegen den späteren Weltmeister Italien.
Apropos Italien: Die Mannschaft von Marcello Lippi versuchte den Bestechungsskandal im eigenen Land auszublenden und das Team spielte wie italienische Mannschaften schon seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielen. Aus einer gesicherten Abwehr werden die Angriffe vorgetragen – aber bloß nicht zu häufig. Attraktiv ist das nicht aber wie der Verlauf der Weltmeisterschaft zeigte erfolgreich. Ganz so defensiv spielen wie unter seinem Vorgänger Giovanni Trapatoni ließ Lippi nicht und wenn er Schwächen beim Gegner erkannt hatte, passierte es, dass er auch mal fünf oder sechs offensive Spieler stellte wie die deutsche Mannschaft in der Verlängerung des Halbfinales leidvoll erfahren musste.
In diesem Spiel brannten die Spieler um Pirlo in den Schlussminuten ein Offensiv-Feuerwerk ab, dem die müden deutschen Spieler wenig bis gar nichts entgegen zu setzen hatten. Völlig verdient erzielte die Squadra Azurra kurz vor Schluss die Führung und sicherte sich damit den Einzug ins Finale.
Die Finalspiele lass ich mal weitestgehend außen vor. Deutschland setzte sich im Spiel um Platz drei gegen Portugal durch, bei dem Louis Figo in der Schlussviertelstunde seinen Abschied von der Nationalmannschaft feierte. Und Italien nutzte einen schwachen Moment Zidans, der sich gegen Marco Materazzi zu einem Kopfstoß der besonderen Art hinreißen ließ. Diese Situation wird vermutlich in Zukunft als Einführung des Videobeweises gelten, denn die Entscheidung erfolgte erst nach Studium der Fernsehbilder – auch wenn das der vierte Offizielle und die FIFA nie zugeben wird.
Vermutlich hätten die Italiener auch gegen Frankreich mit Zidan gewonnen – sie waren bei dieser WM taktisch einfach das beste Team auch wenn im Finale Frankreich die größeren Spielanteile besaß. Dass das Spiel im Elfmeterschießen entschieden wurde ist nur ein Randnotiz. Keine Randnotiz ist allerdings das Elfmeterschießen der Schweizer im Achtelfinale gegen die Ukraine: Die Eidgenossen überholten die Engländer in der Wertung der unfähigsten Elfmeterschützen in nur einem Spiel. Hut ab, drei verschossen Elfmeter sorgten für das Aus, obwohl man im gesamten Turnierverlauf aus dem Spiel heraus keinen Gegentreffer bekommen hatte.
Und dann war da noch das Spiel der Portugiesen gegen die Niederländer. Die schauspielerischen Leistungen und Kung-Fu-Einlagen auf dem Rasen brachten Farbe ins Spiel. Vier Platzverweise, 16 gelbe Karten sorgten für einen Rekord, der unschönen Art. Zwei wild gewordenen Teams und ein überforderter Schiedsrichter waren Grundlage dieses Trauerspiels,
Apropos Niederlande: Früher spielten die Holländer schön und erfolglos – bei dieser WM sah man von den Oranjes wenig ansehnliches und wieder keinen Erfolg – zum Glück.
Wenn der letzte Teil schon ein Brett war, was ist dann das hier ;-)