Moin, so, auch
hier musste erstmal einiges sacken, denn schließlich hatten wir am
Sonntag (und auch in der Folge) die m. E. schwierigste Situation zu
bestehen, seitdem ich zum FC gehe. Nachdem ich mit vielen Menschen
gesprochen habe, steht in meinen Augen Folgendes fest:
- Die Situation am Sonntag ist vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Auch
wenn es einige nicht wahrhaben woll(t)en: Es hat, vor allem um S1 herum,
Situationen gegeben, wo Menschen konkret gesundheitlich gefährdet
wurden. Es hat zwei Einsätze des Rettungsdienstes gegeben.
- Gestern morgen saß hier bei mir im Büro ein 77-jähriger Mann, der
hemmungslos geweint hat, so fertig war er nach schlafloser Nacht. er war
im Gedränge an S1 und hat Panik erlitten. er konnte auch nicht mehr
nach hinten weg. Selten habe ich mich so hilflos gefühlt als wie diesem
Mann gegenüber. Wir haben lange gesprochen und ich glaube, das Gespräch
hat ihm schon ganz gut geholfen.
- Die Anzahl an Beschwerden per mail, Fax, Telefon oder persönlich ist
so groß wie noch NIE. Mit Abstand. Und wir hatten inden letzten
Jahrzehnten schon so einige beschwerdereife Situationen.
Die Mails werden mit folgender vorläufigen Stellungnahme beantwortet:
Hallo, lieber St. Pauli-Fan!
Bitte entschuldigen Sie die unpersönliche Anrede, aber durch die
Vielzahl der Schreiben, die uns zum Thema erreichten, lässt sich eine
gesonderte Einzelbeantwortung nicht gewährleisten.
Aufgrund der Masse an Zusendungen sowie eine beträchtliche Zahl an
telefonisch und persönlich geführten Gesprächen hat sich mittlerweile
ein deutliches Bild dessen aufgebaut, was am vergangenen Sonntag im
Umlauf der Südkurve passiert ist. Präsident Corny Littmann hat dazu
gestern auf der homepage Stellung bezogen: http://www.fcstpauli.com/magazin/artikel.php?artikel=6285&type=2&menuid=57&topmenu=112
Der Verein missbilligt diese Blockade als nicht tolerierbare Form des
Protests. Wie es konkret weiter geht, hängt nicht zuletzt von der
Stellungnahme der Organisatoren der Blockade ab. Um auf einzelne Punkte
in einigen Schreiben einzugehen:
Der Verein war selbstverständlich nicht im Vorwege über die Blockade
informiert. Auch die Ordner haben bei der Blockade nicht unterstützend
gewirkt. Vielmehr war es so, dass es kurz nach Beginn der Blockade zu
einer Beratung zwischen Verein, Polizei, Ordnungsdienst und den
anwesenden Beobachtern des DFB gekommen ist. Diese Runde war sich nach
Betrachtung der sich bietenden Szenerie einig, dass es nicht im Sinne
einer Deeskalation sei, wenn nun der Ordnungsdienst und in der Folge
zwangsläufig die Polizei zur Durchsetzung des Hausrechts bzw. des
berechtigten Zuschaueranspruchs auf Einnahme des bezahlten Platzes
gerufen werden würde. Vielmehr würde dies mit Sicherheit zu Situationen
führen, die weit mehr auch Unbeteiligte gefährden würden als die
Blockade.
Es ist jedoch unstrittig, dass es an einzelnen Punkten im Umlauf der
Südtribüne, vor allem in Höhe des Zugangs S1 (erster Aufgang aus
Richtung Schule) zu beängstigenden Zuständen und einzelnen
Gewaltausbrüchen (von beiden Seiten!) gekommen ist.
Offensichtlich haben die Organisatoren der Blockade die Möglichkeit
solcher Situationen nicht bedacht und damit Menschen gefährdet. So etwas
darf nicht passieren und sich schon gar nicht wiederholen.
Ich möchte aber auch darauf verweisen, dass es auf der anderen Seite
ebenfalls zu nicht hinnehmbaren Beschimpfungen seitens einiger
„Blockade-Gegner“ gekommen ist, sowohl in der Situation am Sonntag als
auch in einigen Beschwerden an den Verein: Wer die Blockierenden auf
eine Stufe mit der SA o.ä. stellt, verfälscht Geschichte – solche
Vergleiche verbieten sich angesichts der Gräueltaten im 3. Reich von
selbst. Auch homophobe und sexistische Äußerungen sind am Millerntor per
Stadionordnung untersagt. Zum Glück sind aber die meisten am Sonntag
besonnen geblieben, auf beiden Seiten.
Wir werden nun wie angekündigt die Stellungnahme von Fanseite abwarten
und das Präsidium wird darauf zeitnah weitere Entscheidungen treffen,
die Sie dann bitte der homepage entnehmen.
Eins sollte aber jetzt schon allen Beteiligten klar sein: Der Riss vom
Sonntag wird schwer zu kitten sein. Es gibt aber keine Alternative, denn
auch wenn etliche sich dieses Recht derzeit gegenseitig absprechen:
Alle sind Fans des FC St. Pauli und werden dies auch künftig sein. Wir
werden weiter miteinander auskommen müssen und so sollten sich alle
Gedanken machen, wie dies künftig zu bewerkstelligen ist.
Es wäre mehr als schade, wenn das Jahr 2010 mit einem Jubiläum und einem
potentiellen Aufstieg daneben als Jahr der Spaltung in die Annalen
eingehen würde.
Mit freundlichen Grüßen
Soweit die Mail-Antwort. Es sollte jetzt aber, wie einige Besonnene hier
vollkommen richtig schreiben, um die Gestaltung der Zukunft gehen.
Meine prsönliche Meinung ist, auch wenn sie für einige der Beteiligten
womöglich zu einseitig ausfällt, dass das Mittel der Blockade weder
politisch noch taktisch-otrganisatorisch das Richtige ist, um sein
Anliegen der Öffentlichkeit nahe zu bringen. Das Mittel der Blockade mag
in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Atom, Nazidemo...) angebracht
sein, ist dort aber auch leichter durchzuführen als in einem engen
Umlauf eines Fußballstadions. Wir können sehr froh sein, dass es am
Sonntag keine Verletzten gab. Die Organisatoren hätten angesichts der
teilweise vorhandenen Situation die Aktion abbrechen müssen. Ich hoffe
sehr, dass sie dies wenigstens im Nachhinein erkennen und sich schlicht
und ergreifend mal entschuldigen. Jedem steht es zu, fehler zu machen.
Auch kann man Erfolgschancen einer Aktion mal falsch einschätzen. Aber
dann bitte auch hinterher dazu stehen. Damit wäre ein sehr fruchtbarer
Boden für eine konstruktive Aufarbeitung bereitet.
Es ist offensichtlich so, dass am sonntag Gräben aufgebrochen sind, die
in der Realität schon lange vorhanden sind. Auch das muss man einfach
mal zur Kenntnis nehmen. Heißt aber auch: die Leitlinien, die auf der
letzten JHV verabschiedet wurden, müssen von allen umgesetzt oder
wenigstens mal zur Kenntnis genommen werden.
Was jetzt nur noch nervt sind die gegenseitigen polemischen Anpöbeleien.
Weder besteht USP nur aus Hooligans noch sind alle anderen, die die
Blockade kritisieren eventgeile VIP-Leute mit Hunger auf
Krabbencocktail.
Aufgrund der Enge des Stadions sind wir in den nächsten Jahren noch
gewissen Sachzwängen unterworfen, was die freie Platzwahl angeht.
Mindestens solange müssen alle in der jetzigen Konstellation miteinander
auskommen. So schwer es einem in der momentanen Situation 2 Tage nach
Sonntag auch vorkommen mag: es muss und wird weitergehen.
Aber beide Seiten sollten realisieren, dass die Realität in unser aller
(!) Stadion womöglich über das konkrete, eigene Umfeld hinausgeht.
Sowohl rein körperlich als auch in dem, was die Leute in ihren Köpfen
haben. Was sie meinen, wenn sie sagen "Ich bin St. Pauli Fan". Keiner
hat dem anderen irgendwas vorzuschreiben, weder in die eine noch in die
andere Richtung.
Ich hoffe, wir kriegen das alle zusammen irgendwie wieder hin, gerade in
diesem besonderen Jahr 2010. Ich könnte noch mehr schreiben, lass das
aber jetzt erst mal.
Gruß
Sven